Beate Gütschow
HC#4
2018
C-Print
148 x 115 cm

©VG Bildkunst Bonn 2018

HC

Opening
31 May 2018, 6–9 PM
 

DE

Vom Lindern der Beliebigkeit

Die Reihe HC (hortus conclusus) von Beate Gütschow bietet scheinbar beiläufige Blicke aus dem Fenster in den städtischen Park. Der Standpunkt wirkt unbeteiligt, als sei der Betrachter dem Geschehen entrückt. Das großstädtische Leben zeigt sich in der Grasnarbe, die unter der mangelnden Aufmerksamkeit vieler Besucher und der sengenden Sonne schon etwas gelitten hat. Im Park gibt es Brennnesseln und zerbrochenes Glas, wie man es aus der Großstadt kennt. Vital und treibend, aber auch abgegriffen, manchmal ermattet zeigen sich die Gegenstände und Pflanzen in ungeschönter Kleinteiligkeit. Der Einstieg in die Bilder fällt leicht, wirkt fast beiläufig, wie ein alltäglicher Blick aus dem Fenster. Erst beim Studium der Details wird klar, dass der Lichtkegel, der für gewöhnlich in einem Kameraobjektiv entsteht, in den Bildern fehlt.

Beate Gütschow fotografiert Parks, um im Anschluss die Perspektive der Bilder aufzuspalten. Dazu werden bis zu 150 Fotos von einzelnen Objekten, wie Mauern, Bänken und Pflanzenkästen gemacht, die im Rechner zu photogrammetrischen Modellen zusammengesetzt werden. Aus dem Bildmaterial verbindet ein Algorithmus Punkte, die in mehreren Fotografien zu gleich vorkommen, zu einem Polygonnetz, das die Objekte in ihrer Tiefendimension mehransichtig visualisiert. Abschließend wird die fotografische Oberfläche auf das Netz projiziert. Mit diesem Datensatz als Ausgangspunkt wählt Gütschow in einem 3D-Programm anstelle der für Kameraobjektive üblichen Fluchtung eine Kavaliersperspektive. Das bedeutet, dass sich die Tiefenlinien eines Würfels in Rauten verwandeln, die Linien also nicht aufeinander zu, sondern parallel verlaufen.

In der Fotoserie HC (hortus conclusus) nimmt Gütschow auf Gartendarstellungen in mittelalterlicher Buchmalerei Bezug, indem sie die fotografische Fläche frei komponiert. In der zentralen Perspektive eines Fotos sind herkömmlicherweise Aspekte des Gegenstandes verdeckt, die in der Photogrammetrie gleichwertig werden, so dass Gütschow sich erst im Nachhinein am Rechner für eine Ansicht entscheiden kann. Im Verlaufe des Prozesses komponiert die Fotografin Landschaftselemente aus Einzelbildern mit unterschiedlich perspektivierten Architekturobjekten, die sie am Rechner in sehr zeitaufwendiger Kleinstarbeit wieder zusammensetzt. An den Übergängen zwischen Wiese und Wand stellt sie die Kontinuität wieder her, indem sie Farbtöne, Helligkeit und Kontraste anpasst.

Der Garten, den Gütschow entwirft, spiegelt die Lust am Detail der fotografischen Fülle; so ist jedes verwendete Bildelement abgelichtete Wirklichkeit. Das künstlerische Kalkül bewegt sich in der Abwägung zwischen flächiger Komposition und fotografischer Tiefenstruktur. Der verlebte Park wird in der Fotoserie zu einem visuellen Rätsel, das imaginäre Brüche in der Bildkontinuität nur durch das Wissen aus der Seherfahrung des Betrachters vermuten lässt. Neben dem fehlenden Fluchtpunkt, den man in einer Fotografie erwarten würde, ist der Horizont in der von Gütschow angelegten Komposition keine Linie, sondern wirkt wie aufgeklappt; schüttet den Bildinhalt dem Betrachter entgegen. In anderen Bildern wirkt er wie ein Ruhepol, ein breites Band, das statt einer Fluchtung einen zentralen Ort schafft. Gütschow erweitert die prioritätlose Fülle der Fotografie um die Mehransichtigkeit der Objekte und gibt ihr gleichzeitig mit dem Gartenmotiv einen erzählerischen Rahmen. Der Betrachter entrückt aus der erwarteten Perspektive der Fotografie findet einen bedächtigen Ort vor.

Menschen sind in der Fotoserie oft als Abwesende repräsentiert: Graffiti an den Mauern und Sitzbänken zeugen von einer vibrierenden Jugendkultur, aber die Bänke und Wege bleiben oft leer. Pflanzen und Bäume wirken begangen; manchmal in ihrem Wachstum bedrängt. Gibt es mal Besucher im Park, bewegen sie sich unbeobachtet, oder gar geistesabwesend. Besonders fällt eine Mobiltelefonnutzerin ins Auge, die unberührt von der Welt um sich herum, im schwarzen Spiegel versinkt. Mit ihrer Körperhaltung im Schneidersitz und den Kopf ausgependelt über dem mobilen Gerät erinnert sie an einen antiken Dornenauszieher. Der krumme Rücken schirmt die Figur von der Außenwelt ab, schützt sie in ihrer Kontemplation auf das verspannte Körperteil; beide Figuren verbindet die Hoffnung auf Linderung. So lindern auch die Bilder von Gütschow das Argument fotografischer Wirklichkeit; lindern die Beiläufigkeit der Fotografie ohne ihre Fülle zu verstellen. Die Bilder wirken nahezu versöhnlich, gerade weil sie die Vermessung, das Operative der Lichtprojektion in eine künstlerische Abwägung verwandeln und das Durchdringen der Gegenstände nicht einfach mit einem Knopfdruck geschehen lassen.

Text von Sara Hilnhütter

 

ENG

Relieving the Contingency

HC (hortus conclusus), a series of photographs by Beate Gütschow, offers ostensibly passing views of urban parks. The viewpoint carries a sense of detachment, as if the observer was disconnected from the world outside. Urban life is evident in the shabby turf, trampled by many careless visitors and scorched by the sun. There are stinging nettles and shards of broken glass; familiar sights in big cities. The dispassionate, precise detail of the pictures shows objects and plants to be vital and verdant yet also worn or even ragged. Accessing the pictures seems easy, almost coincidental, like glancing casually out of a window. But at length the observer becomes aware of the fact that the light beam usually evoked by a camera lens is missing.

Beate Gütschow photographs parks to rearrange the perspective. For each work, she takes up to 150 photos of individual objects, such as walls, benches and plant troughs, to assemble them digitally as photogrammetric models. An algorithm connects identical-appearing points on several photographs to form a polygon net, visualising the objects’ depth. Finally, the photographic surface is projected on to the net. Taking this data record as raw material, rather than the usual linear perspective camera-lens alignment, Gütschow uses a 3D computer programme to let the object appear in a cavalier perspective. In this way, for example, the depth contours of cubes are turned into rhombuses, so the lines in the picture do not converge but run parallel.

By her free composition of the photograph’s surface in HC (hortus conclusus), Gütschow refers to the garden portrayals of medieval illumination. Conventionally, some aspects of an object are overlooked due to the photograph’s central perspective. But in photogrammetry, they all gain equal value, allowing Gütschow to decide on the view she wants retrospectively and digitally. During the composition process, Gütschow puts together landscape elements from different images of architectural objects in varying perspectives and painstakingly re-assembles them at the computer in time-consuming, precision work. Where grass meets walls, she recreates continuity by adjusting the colour nuances, brightness and contrasts.

The garden that Gütschow creates reflects her delight in photographic abundance; every picture element used is photographed reality. Her artistic strategy is to mediate between two-dimensional composition and photographic depth. Within the photographic series, the run-down park becomes a visual puzzle; the observer can only imagine the unseen breaks in the pictorial continuity by drawing on his or her own visual experience. As well as missing vanishing points, the photographs composed by Gütschow have no linear horizon but appear opened like a book, pouring the picture content toward the observer. In some pictures the horizon appears as a resting place; a broad band that forms a central oasis rather than an alignment. While expanding the non-prioritising photographic abundance to encompass multiple views of objects, Gütschow also places it within a narrative framework in the form of the garden motif. What the observer finds, abandoning expectations of a conventional photographic perspective, is a sedate place.

People in this photographic series are conspicuous mostly in their absence: Graffiti on the walls and benches bear witness to a lively youth culture but the seats and paths are mostly empty. Plants and trees are pruned, and sometimes  stunted. If visitors can be seen in the park, they appear as incidental figures, some lost in reverie. One figure is particularly striking: a woman immersed in using a cellphone, oblivious to the world around her. With her physical attitude, seated cross-legged and head inclined over her mobile device, she is reminiscent of Spinario, the Roman sculpture of a boy removing a thorn from his foot. Her bent back shields her from the outside world, protecting her while she concentrates on the tensed part of her body. Like Spinario, she is hoping for relief. And Gütschow’s pictures offer relief – from the rationale of photographic reality. They relieve the contingency of photography without diminishing its abundance. The pictures appear almost conciliatory, precisely because they transform the survey – the operative purpose of the photographic process – into a form of artistic mediation, instead of measuring the objects by  pressing  a button.

Text by Sara Hilnhütter, translated by Charlotte Kreutzmüller